https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitge ... -kommentar
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Nein, das Beunruhigende war – neben der bedrohlichen Zuspitzung der Viruslage in ganz Europa – dass nicht sehr viele Menschen zu hören und zu lesen waren, die die Aussicht auf eine allgemeine Ausgangssperre erschütterte. Die alles daran setzten, Alternativen zu erdenken und dafür warben. Im Gegenteil. Menschen, die sonst gegen "Verbotskultur" polemisieren und damit Maßnahmen gegen den langfristig ebenso bedrohlichen Klimawandel meinen, feiern jetzt den bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder, weil der nicht rede, sondern handle. Als gäbe es in dieser Gegenwart so etwas wie unzweifelhaft richtige staatliche Verhaltensweisen. Als gäbe es nur Umsetzungsdefizite und kein gewaltiges gesellschaftliches Dilemma.
Die vielen empörten "Ausgangssperre jetzt!"-Rufe der letzten Tage konnte man als das Bedürfnis nach kollektiv-konformem Verhalten deuten. Aber wahrscheinlich ist es viel menschlicher. Wahrscheinlich stellt diese gewaltige staatliche Sanktion für viele, die ihre Panik zu kontrollieren versuchen, ein letztes Mittel vor der Hoffnungslosigkeit dar. Ob sie wirken wird, ist vielleicht jetzt erst mal weniger wichtig als der Fakt, dass es noch etwas gibt, das wir sofort tun können.
Es könnte sich als gefährliche Bequemlichkeit herausstellen, einfach anzunehmen, dass all die restriktiven Maßnahmen, die jetzt beschlossen werden, sich quasi von selbst wieder abschaffen. Sie mögen in einigen Wochen wieder auslaufen, aber unklar ist, ob die Menschen sich daran gewöhnen, solche drastischen Einschränkungen der Bürgerrechte auch in anderen Krisensituationen hinzunehmen. Wer weiß schon, ob verantwortungsvolle Politiker wie Angela Merkel an der Macht sein werden, wenn die nächste Pandemie oder eine andere Katastrophe Deutschland bedrohen. Bürgerrechte sind nichts Selbstverständliches, und noch weniger temporär eingeschränkte Bürgerrechte.
Und deshalb dürfen wir nicht nur gegen das Virus kämpfen. Wir müssen uns auch gegen eine Stimmung wappnen, in der die Erhaltung der Bürgerrechte als Bürde für das Gemeinwohl gilt. Wir alle müssen uns jetzt dem Notwendigen beugen, um dieses Virus an der Ausbreitung zu hindern. Aber genauso sollten wir uns dagegen wehren, dass viele das ganz normal finden. Die Feinde der Demokratie warten nur darauf."
Wir schätzen die Menschen, die frisch und offen ihre Meinung sagen - vorausgesetzt, sie meinen dasselbe wie wir. (Mark Twain)