Daniel1975 hat geschrieben: ↑Mi Apr 14, 2021 6:35 pm
Aber warum funktioniert es in Schleswig-Holstein einigermassen und in Mecklenburg-Vorpommern nicht so richtig (doppelte Inzidenz)
? Haben die Leute im Nordosten mehr Freiheits - oder sich unbedingt treffen müssen Drang als im hohen Norden
, solche Sachen sind mir immer wieder ein Rätsel
! Zumal Mecklenburg nichtmal Fremde ins Land lässt.
Im Voraus: Ich habe keine Feldforschung zu dieser Frage betrieben und ich bin auch kein Soziologe, sondern eher Aerosolfachmann.
Ich leite das Folgende aus meiner persönlichen Wahrnehmung und von Gelesenem bzw. Gehörtem her.
Zu Beginn der Pandemie hatten wir vor allem ein starkes Nord-Süd-Gefälle. Das würde ich am ehesten mit unterschiedlichen Lebensstilen in historisch protestantisch bzw. katholisch geprägten Landschaften erklären.
Inzwischen haben wir, jeweils auf gleicher Höhe, ein erhebliches, verfestigtes Ost-West-Gefälle.
Wenn man sich die Frage stellt, warum das so ist, kommt man wahrscheinlich um den Begriff DDR nicht herum.
Die meisten im Osten ab etwa 45 haben ihre Sozialisation in der DDR erfahren (ich gehöre zu dieser Gruppe), in einem totalitären System, das den meisten Menschen außerhalb des privaten Bereichs wenig bis keinen Mitgestaltungsspielraum gegeben, ihnen aber im Gegenzug auch nicht die Übernahme von Eigenverantwortung abverlangt hat.
Der fürsorgliche Staat hat sich von der Wiege bis zur Bahre um alles gekümmert, man musste nichts weiter tun, als die Klappe zu halten, um ein ruhiges Leben in Sicherheit führen zu können.
Meckern konnte man immer, im kleinen Kreis, offene Abgrenzung inkl. der Inkaufnahme eigener Nachteile war eher die Ausnahme als die Regel. Dieses System hat tendenziell eher Untertanen als mündige Bürger hervorgebracht, die sich für den Zustand ihres Gemeinwesens auch verantwortlich fühlen.
Aus dieser Sozialisation hat sich bei doch einigen im Osten ein Paradoxon entwickelt.
Man kann oder will auf der einen Seite nicht verstehen, dass die jetzigen Gesellschaft grundsätzlich anders (ohne Wertung) funktioniert als die damalige, völlig unsinnige Vergleiche in dieser Richtung kennst du auch; dass es keinen allmächtigen Staat mehr gibt, der einem die Lösung aller Probleme abnimmt; dass Eigenverantwortung viel, viel wichtiger als damals für ein gelungenes Leben (im ganz umfassenden Sinn) ist. Wir müssen viel häufiger Entscheidungen treffen als früher, dabei können wir aus viel mehr Alternativen als auswählen. das kann manchen auch überfordern, der es anders gelernt hat.
Diesen Punkt haben die geborenen Wessis quasi mit der Muttermilch aufgesogen, zumindest mehrheitlich.
Auf der anderen Seite kann man jetzt, auch völlig unreflektiert, offen in Totalopposition zum Staat oder zur Regierung gehen. Im Unterschied zu damals riskiert man damit rein gar nichts. Es ist heute sehr billig, den Widerstandkämpfer zu geben.
Das führt dann zu der absurden Situation, dass man konkret in der Pandemie alle Regeln über den Haufen wirft, gegen die Vernunft wissentlich auch zum eigenen Schaden handelt, gleichzeitig aber empört mit dem Finger auf andere zeigt, die jeweils "völlig versagt" haben.
Ein Psychologe würde sich bei der Beschreibung derartiger Verhaltensweisen in Richtung infantil bewegen, evtl. würde er von durch Erziehung/Sozialisation geschädigten, im Extremfall deformierten Persönlichkiten sprechen.
Der lange Arm einer totatlitären Erziehung reicht weit. Man kann auch als strammer Antikommunist den verinnerlichten totalitären Weltbildern anhängen, ähnliche Erscheinungen wie im Osten Deutschlands sind ja auch in anderen ehemaligen Ostblockstaaten zu beobachten.
Dazu kommt noch verstärkend der Effekt, dass es auch offline möglich ist, in einer Blase zu leben, in ländlichen Gegenden eher als in Metropolen.
In denen wird man unausweichlich und täglich mit anderen Sichtweisen, Sozialisationen, Kulturen ... konfrontiert und dadurch gezwungen, die eigenen Sichtweise zu zumindest zu hinterfragen.
Ich höre hier erst mal auf und harre in stiller Vorfreude erwartungsvoll des Shitstorms zum Beitrag.
"Eine Diskussion mit [...] Wissenschaftsleugnern sei »wie Schach spielen mit einer Taube: Sie wirft die Spielfiguren um, kackt auf das Spielbrett und fliegt dann zurück zu ihrem Schwarm, um ihren Sieg zu feiern.«"